Montag, 25. April 2016

Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung.




James T. Webb: Doppeldiagnosen und Fehldiagnosen bei Hochbegabung. Ein Ratgeber für Fachpersonen und Betroffene.
ISBN: 978-3-456-85365-9

Ganz zu Anfang: Webb bezeichnet Hochbegabung als Diagnose, daher der Begriff „Doppeldiagnose“ = Hochbegabung plus andere Diagnose. Das entspricht nicht meiner Auffassung, denn Hochbegabung muss glücklicherweise nicht zwingend eine Einschränkung sein (dazu wird sie erst, wenn das Umfeld nicht passt).

Das Buch ist sehr logisch aufgebaut: Es werden die häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter besprochen und für jedes Störungsbild werden die wichtigsten Auffälligkeiten besprochen. Diese „Auffälligkeiten“ werden in einem zweiten Schritt unter dem Aspekt der Hochbegabung betrachtet. Dabei wird sichtbar, dass manche Verhaltensweisen, die bei hochbegabten Kindern typisch sind, in „gefährlicher Nähe“ zu dem stehen, was das DSM-IV-TR als „Auffälligkeit“ betrachtet. Zum Beispiel kann die Versunkenheit eines hochbegabten Kindes in eine interessante Tätigkeit als Störung der Aufmerksamkeit gesehen werden oder die motorische Aktivität als Hyperaktivität (obwohl das Kind nur mit den Beinen zappelt, weil es sich langweilt).

Grundsätzlich geht Webb davon aus, dass sich Hochbegabung und psychische Störung nicht ausschließen, dass aber oft Verhaltensweisen, die für Hochbegabung typisch sind, fälschlicherweise als Symptome einer Störung gesehen werden (= Fehldiagnosen), weil im diagnostischen Prozess der IQ-Test fehlt. Oder die Fachperson nicht über Hochbegabung Bescheid weiß.

Als Entscheidungskriterium führt Webb immer wieder die „persönliche Beeinträchtigung“ an - nach dem Motto: Wenn die betroffene Person sich nicht selbst beeinträchtigt fühlt, dann ist es keine psychische Störung. Das ist sehr wichtig, denn soll das Verhalten des Kindes geändert werden, weil es das Umfeld - und nicht das Kind selbst - belastet. Hier sagt Webb ganz klar, dass dieses Vorgehen falsch ist: Hier muss sich das Umfeld an das Kind anpassen.
Wichtig ist auch, dass beim diagnostischen Prozess abgeklärt wird, in welchen Situationen das „auffällige Verhalten“ auftritt, denn nur so kann geklärt werden, ob es nur eine normale Reaktion auf nicht passende Umweltbedingungen ist.

Das Buch beschränkt sich auf die Beschreibung und Erklärung der „Störungsbilder“ und auf ihrer Abgrenzung zur „normalen Hochbegabung“. Diesem Anspruch wird es voll und ganz gerecht. Wer Handlungsvorschläge oder Tipps zum Umgang mit hochbegabten Kindern sucht, wird hingegen enttäuscht werden.

PS: Zum Teil wirkt der Text ein bisschen amerikanisch - ständig ist die Rede von Hochbegabtenprogrammen der jeweiligen Schule und von Anpassung des Bildungsprogramms. So al ob das in den USA gang und gäbe wäre. Ob es tatsächlich so ist, kann ich nicht beurteilen. Wenn ja, dann sind sie uns hier um einiges voraus ;-).

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